Der ganz normale Wahnsinn oder: Mein Leben als Abiturientin
Lernst du noch oder lebst du schon?
Endlich ist es so weit! Elf lange Jahre habe ich auf diesen Moment hingefiebert: das Abitur, das große Finale meiner Schullaufbahn. Da warten so viele tolle Events auf mich: die Weinmesse, die Rhetorika, die Abi-Reise, der lang ersehnte Abiball und, nicht zu vergessen, die Diplomverleihung. Endlich zu den Ältesten gehören und sich wie die Elite fühlen. Endlich! Das habe ich zumindest so geglaubt, als ich noch im ersten Sekundarschuljahr war. Jetzt kann ich über diesen letzten Punkt nur noch lachen. Elite, pffffff…! Nachteulen trifft es schon besser.
Schaut man sich die breite Masse an Abiturienten an, stellt man vor allem eines fest: Zombieartige Erscheinungen mit Augenringen bis zu den Knien schlurfen übermüdet über die Schulflure, um rechtzeitig im Unterricht zu erscheinen, zumindest körperlich.
Doch vor allem habe ich dieses Jahr eines gelernt: Wenn du denkst, es geht nicht mehr, dann komm in die Schule und du kriegst noch einen Arbeitsauftrag mehr. Was habe ich mir das Erwachsenwerden in der Schule romantisiert: eigene Entscheidungen treffen, wie ein selbstständiges Individuum behandelt werden und mit dem Laptop unter dem Arm durch die Schule stolzieren, um ganz easy und nebenbei an meiner perfekten Endarbeit weiterzuschreiben. Nach der Schule ganz cool mit dem Coffee-to-go in der Hand auf den Bus warten und voller Freude über das Erreichte am Tag nach Hause fahren. Noch schnell die Hausaufgaben erledigen und danach, natürlich ganz eigenständig und mit dem Auto der Eltern, in die Stadt fahren, um dort eine Runde shoppen zu gehen, und zwar mit meinem total zuvorkommenden und großartigen Freund.
Wenn ich jetzt darüber nachdenke, kann ich nur müde schmunzeln, denn die Realität sieht doch tatsächlich ein klein wenig anders aus: All diese Entscheidungen, die ich treffen muss, will ich am liebsten so schnell wie möglich jemand anderen für mich treffen lassen. Wegen meiner ach so perfekten Endarbeit habe ich täglich mindestens zwei Nervenzusammenbrüche und bei dem Gedanken an meinen viel zu bitteren und mit fünf Euro überteuerten Coffee-to-go zieht sich in mir alles zusammen. Das Erledigen meiner Hausaufgaben artet übrigens zu einem vierstündigen Kampf zwischen mir und meinem inneren General aus, der die To-do-Liste schon für zwei Monate gefüllt hat. Selbstverständlich fahre ich um 22:30 Uhr mit meinem nicht vorhandenen Führerschein zu keinem anderen als zu meinem besten und doch entferntesten Freund, dem BETT. Und der Einzige, der sich dort zu mir gesellt, ist mein verwirrter Kater, der bei meinem verzweifelten Weinen jedoch sofort die Flucht ergreift, bevor ich ihn mit der hochgradig infektiösen Krankheit anstecken kann, die sich Abitur im belgischen Schulsystem nennt.
Wie es aussieht, fängt die perfekt zu scheinende Fassade in der Schule nun doch an, in sich zusammenzubrechen. Höher, schneller, weiter, aber bitte ohne pedantisch oder streberisch zu sein. Immer an die 100 Prozent kratzen, aber dabei immer schön lächeln und bescheiden bleiben. Immer schön alles vorbereiten und rechtzeitig abgeben, aber nebenbei auch noch drei Hobbys gleichzeitig haben und schön ausgeglichen sein. Denn Stress, den wollen wir möglichst vermeiden. Stress? Was ist das überhaupt?!?
Ob es mir gutgeht und ich mich auf die Haute Ecole freue? Sieht man das denn nicht? Aber hey, was beschwere ich mich eigentlich? Wir sind ja die „Großen“, die Elite und die privilegierten Abiturienten, die immer schön brav lächeln (oder alles weglächeln) und für die Stress ein Fremdwort ist.