12. November 2024
MG St.Vith

Brexit: Vier Jahre danach

Mehr als vier Jahre ist es nun her, dass Großbritannien die Europäische Union verlassen hat. Nach einem Referendum 2016 entscheiden sich 52 Prozent der Wähler für den Austritt aus der EU. Nachdem 2017 der Antrag in Brüssel eingereicht wurde, trat am 31. Januar 2020 Großbritannien offiziell aus der EU aus. Diese Entscheidung hatte Auswirkungen auf das gesamte Land, die sich auch heute noch bemerkbar machen. Wir haben Rolf Wiesemes, der über 20 Jahre in Großbritannien gelebt hat, nach seiner Einschätzung gefragt.

„Großbritannien war vor dem Brexit ein EU-Mitgliedsland, dessen Mitgliedschaft in der EU aber seit Jahren in Teilen der konservativen Presse und in Teilen der konservativen Tory-Partei massiv kritisiert wurde“, erklärt Rolf Wiesemes. Im Vereinigten Königreich herrschte in Teilen der Bevölkerung eine EU-Skepsis seit dem EU-Beitritt 1973 und vor allem während Margaret Thatchers Regierungszeit.

Obwohl beim Referendum 2016 die Mehrheit vermutet hatte, dass für einen Verbleib in der EU gestimmt werden würde, wurde am Tag nach der Abstimmung das Gegenteil verkündet. Diese Nachricht überraschte nicht nur Rolf Wiesemes und seine Frau, sondern auch viele andere Briten, die wie er, gegen den Austritt spekulierten. Da wegen des Brexit-Votums eine wachsende Unsicherheit im Land herrschte, entschieden sich viele internationale Paare dazu, sich nach alternativen Arbeitsstellen außerhalb Großbritanniens zu erkundigen.

Nachdem das Ergebnis des Votums vorlag, entschieden sich viele EU-Arbeitnehmer und deren Familien dazu, das Land zu verlassen. Das Motiv, Großbritannien zu verlassen war für Rolf Wiesemes und seine Familie „die zunehmende potenzielle wirtschaftliche Unsicherheit in Großbritannien und auch die Möglichkeit persönlich und beruflich noch einmal etwas Neues zu wagen”. Kurz nach dem Brexit sei öffentlich debattiert worden, dass Briten bei Stellenangeboten Vorrang vor EU-Bürgern bekommen sollten. Das sei so nie umgesetzt worden, aber aufgrund der Unsicherheit hätten auch viele hochqualifizierte Kräfte neue Arbeitsstellen in EU-Ländern angenommen.

Doch wie kam es zu dem Ergebnis? Laut Wiesemes hatten sich vor allem ältere Menschen für den Ausstieg entschieden, weil sie sich an vermeintlichen früheren Wohlstand oder an ein angeblich einfacheres Leben vor dem EU-Beitritt im Jahr 1973 erinnerten und sich mit einer gewissen Nostalgie zurück nach dieser Zeit sehnten. Die Folgen der Entscheidung der älteren Wähler haben vor allem die jüngeren Briten zu tragen, die jedoch nicht wahlberechtigt waren oder ihre Stimmen nicht abgegeben haben. Die Folgen trafen auch die eingewanderten Bürger, die sich bereits seit langem aktiv am britischen Alltag beteiligt hatten.

Hinzu kommen regionale Unterschiede, durch die die Bürger für oder gegen den Brexit stimmten. In Schottland waren beispielsweise viele Menschen eher pro-europäisch eingestellt, weshalb sie sich für den Verbleib in der EU aussprachen. Nordirland hatte ebenfalls gegen den Brexit gestimmt, weil sie das Friedensabkommen zwischen Irland und Nordirland nicht gefährden wollten. Anders stimmten der Nordosten und der Südwesten Englands. Sie wollten aus der EU austreten, weil sie seit Jahren ökonomisch schwach sind und unter den Folgen, die durch den Verlust von industriellen Sektoren entstanden waren, litten. Außerdem ersehnten sie sich, durch die von Brexit-Befürwortern erhofften neuen Gelder, die nach dem EU-Austritt zur Verfügung stehen sollten, einen wirtschaftlichen Aufschwung. Dies hat sich natürlich als Trugschluss erwiesen.

Die Folgen seien spürbar und manifestierten sich in vielen Lebensbereichen der Bürger Großbritanniens, erklärt Rolf Wiesemes. “Arbeitnehmern ist die Chance genommen, problemlos im europäischen Ausland zu arbeiten. In den Supermärkten gibt es immer wieder Engpässe bei manchen Lebensmitteln. Vor dem Hafen von Dover entstehen wegen der zusätzlichen Zollformalitäten immer wieder kilometerlange Warteschlangen. Britische Schulen können nicht mehr an Erasmus-Aktivitäten teilnehmen und im Gesundheitswesen fehlt massiv Personal, weil viele EU-Ausländer im Gesundheitswesen als Ärzte und Pfleger tätig waren. Warenimporte und -exporte sind komplizierter geworden.”

Von Freunden und Familienangehörigen gewinne er den Eindruck, dass sich die Situation im Land weiterhin verschlechtert habe. Jugendliche und junge Erwachsene leiden seiner Meinung nach am meisten unter den Folgen, da es diesen durch den Brexit erschwert, ein Studium im Ausland anzufangen, dort zu arbeiten, zu leben oder auch frei zu reisen.

Vor dem Brexit habe er sich sehr wohl und willkommen in Großbritannien gefühlt, dies änderte sich jedoch kurz bevor und nachdem das Referendum stattfand. Im Supermarkt habe er beispielsweise plötzlich negative Kommentare erhalten, wenn er mit seinen Kindern dort Deutsch sprach. Allerdings seien beispielsweise Polen, die beim Brexit-Votum im Osten Englands lebten, viel massiver mit offenem ausländerfeindlichen Verhalten konfrontiert worden wie beispielsweise mit rassistischen Schmierereien an ihren Haustüren.

Durch die Folgen des Brexits ist vieles in Großbritannien komplizierter geworden. Während EU-Bürger vorher mit einem normalen Ausweis in das Land reisen konnten, ist nun ein Reisepass notwendig. Es ist auch schwieriger geworden, mit britischen Schulen, Universitäten und Unternehmen zusammenzuarbeiten.

Laut einer Umfrage von Opinium Research Ende 2023 sieht eine Mehrheit der britischen Wähler den Austritt aus der EU als Fehler an. Der Gesundheitssektor leidet nicht nur unter Fachkräftemangel, er hatte sich auch eine bessere Finanzierung nach dem Austritt aus der EU erhofft. Zudem hatte der ehemalige Premier Boris Johnson versprochen, dass der Brexit das Wirtschaftswachstum ankurbele und dass das Vereinigte Königreich die Kontrolle über seine Außengrenzen wiedergewinnen würde. Die Realität vier Jahre danach sieht anders aus: Gestiegene Preise, eine schwache Wirtschaft und ungelöste Immigrationskontrolle.

Nichtsdestotrotz denkt Wiesemes, dass Großbritannien nach wie vor ein großartiges Land ist und dass er immer einen Bezug zu dem Land haben wird, das ihn sehr willkommen geheißen hat. Großbritannien bleibe weiterhin sehr international und habe immer noch viel zu bieten, daran werde selbst der Brexit erst einmal nichts ändern.

Lisa Margraff und Luna Theissen – Illustrationsbild: Tolga Akmen/AFP

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