Flucht aus der Armut
„Wir hatten keine Toilette, keine Heizung und keine Dusche im Haus, niemand in meinem Dorf verfügte darüber“, erzählt Audra Kisunaite, die in Litauen aufgewachsen ist, fast 30 Jahre in ihrem Heimatdorf Obelilai verbracht hat und den Wandel von der Besatzung bis zur Freiheit erlebt hat. Doch wie lebte es sich dort und was hat dazu geführt, dass tausende Menschen, so auch Audra, von dort ausgewandert sind?
Litauen war bis zum 13. Januar 1991 von den Russen besetzt. Es war keine leichte Zeit für die Einheimischen, da die Regierung nahezu alle Aspekte des Lebens kontrollierte, unter anderem war auch der Glaube an eine Religion verboten. Messen durften nicht gehalten werden und alle christlichen Feste, wie zum Beispiel Weihnachten oder die 1. Heilige Kommunion, durften nicht gefeiert werden. Hinzu kam, dass es ein Reiseverbot gab und man immer ein Visum beantragen musste, sobald man ins Ausland wollte. In der Schule wurden die üblichen Fächer gelehrt, jedoch hatten die Kinder und Jugendlichen auch eine Militärstunde pro Woche, in der man ihnen den Umgang mit Waffen beibrachte.
Ein weiteres schwerwiegendes Problem damals war die allseits gegenwärtige Korruption in nahezu allen öffentlichen Bereichen, so auch in der Schule. Dies hat sich bis zum heutigen Tage nicht wirklich verändert. „Man konnte so viel lernen, wie man wollte, doch wenn die eigenen Eltern keinen angesehenen Beruf ausübten, erhielt man halt eben automatisch schlechte Punkte“, erklärt Audra K.
Dass Russland Litauen besetzte, hatte auch gravierende Folgen auf die wirtschaftliche Lage. Im Gegensatz zur freien Marktwirtschaft, wie es sie in den westlichen Ländern gibt, gab es in Litauen zu der Zeit die Planwirtschaft, in der dem Staat alle Betriebe und Produktionsmittel gehörten. Die Währung wechselte drei Mal innerhalb kurzer Zeit und das Geld verlor an Wert. In Zeiten, in denen die Lage besonders schlimm war, wurde man nicht mit Geld bezahlt, sondern mit Getreide. Die Inflation stieg, viele Unternehmen schlossen und die Arbeitslosigkeit nahm zu. Viele Leute hungerten damals, da das Geld nicht mal mehr für Lebensmittel reichte. Audra K. schildert: „Meine Familie und ich hatten Glück im Unglück, wir besaßen nämlich einen Garten mit selbst angebautem Obst und Gemüse, wir mussten nicht wie die anderen hungern. Bei vielen Leuten hat der Lohn nicht gereicht, um sich ein in unseren Augen normales Leben zu leisten.“
Als Litauen endlich unabhängig wurde, wanderten viele Menschen aus, da man ab diesem Zeitpunkt ohne Erlaubnis der Behörden ausreisen durfte. Nach Norwegen, Schweden und Großbritannien gingen die meisten Leute, da die Verdienstmöglichkeiten dort sehr hoch waren. Seit 1991 wanderten schätzungsweise 899.000 Menschen aus. Von der einst damaligen 3,6 Millionen großen Bevölkerung blieben nur noch 2,8 Millionen Menschen übrig. Für Audra K war nach der Unabhängigkeit auch klar, dass sie auswandern wollte. Sie arbeitete nach ihrem Studium weiterhin in Litauen in einem Restaurant und ihr Lohn dort betrug 70 Litas pro Stunde, was umgerechnet 3,44 Euro waren. Das reichte nicht für ein gutes Leben und schon gar nicht für eine Wohnung. Deshalb entschloss sie sich 2004, mit ihrer Schwester nach Belgien zu kommen, wo eine Bekannte sie erstmals aufnahm. Sie wollte endlich für ein faires Gehalt arbeiten gehen und ihren Eltern in Litauen helfen, da deren Rente nicht ausreichte, um sich zum Beispiel ein Bad und eine Heizung zu leisten. „Als meine Mutter das erste Mal zu Besuch in Ostbelgien war“, berichtet Audra K, „ sagte sie mir, dass wir alle wie im Himmel leben würden. Den Moment habe ich nie vergessen.“
Heute wohnt Audra K. mit ihrem Mann und den beiden gemeinsamen Kindern in Herresbach und arbeitet im St. Josef Hospital als Krankenpflegerin. Bis zum heutigen Tage hat sie es nicht eine Sekunde bereut, nach Belgien gekommen zu sein. Das Leben hier hat ihr von Anfang an gefallen. Trotz ihrer Auswanderung kehrt sie jährlich in ihr Heimatland zurück, da sie trotz der schwierigen Vergangenheit auch viele schöne Momente dort erlebt hat und es immer ein Teil ihres Lebens sein wird.
Amélie Kreitz – Foto: Audra Kisunaite